In der Nähe von Triest kontrollieren italienische Polizisten eine Gruppe von Pakistanern, die aus Slowenien gekommen ist.
(Foto: picture alliance/dpa/LaPresse via ZUMA Press)
Bis vor einem Jahr war die italienische Stadt Triest ein Vorzeigemodell für die Aufnahme von Migranten: schnelle Asylanträge, Umverteilung auf Wohnungen. Das ist vorbei. Heute schlafen Geflüchtete in der Gesellschaft von Ratten.
Es ist 8.30 Uhr am Morgen, Abdullah schaut verschlafen aus einem Berg von Decken. Er zählt sie. Neun sind es insgesamt, trotzdem "war mir eisig kalt", sagt er. Kein Wunder, die Temperatur in der Nacht lag unter null und seine Pritsche befindet sich nicht in einem Schlafsaal, sondern in den verwahrlosten Silos des alten Triester Hafens. Abdullah ist Mitte 20, kommt aus Pakistan und ist nicht der Einzige, der hier in der Nacht Unterschlupf gefunden hat.
In den Hallen sieht man überall notdürftig aus Kartons und Decken errichtete Bettlager, in denen Flüchtlinge schlafen. Hier unten sind es an die dreißig. Geht man weiter durch ein Schlupfloch die Stiege hinauf, findet man weitere Männer, die die Nacht hier verbracht haben. Überall liegt Müll, ein junger Afghane, der unter einem Stoff- und Kartonvorhang hervorlugt, antwortet auf die Frage, wie er die Nacht verbracht habe: "In Gesellschaft von Ratten."
Gianfranco Schiavone ist Vorsitzender der Hilfsorganisation Consorzio Italiano di Solidarietà (ICS), der "italienischen Arbeitsgemeinschaft der Solidarität". Er schätzt, dass momentan an die 130 Migranten in der Stadt kein wirkliches Dach über dem Kopf haben. "Das ist eine vollkommen neue Situation für Triest", sagt er ntv.de. "Bis Juli 2022 gab es so etwas nicht." Ganz im Gegenteil, Triest galt als Modell. Eigentlich ist das noch immer so.
"Wir haben zwei Aufnahmezentren", fährt Schiavone fort. "Casa Malala, eine ehemalige Kaserne an der Grenze mit Slowenien, und Campo Sacro, eine Jugendherberge, die früher von den Pfadfindern genutzt wurde." In beiden Einrichtungen blieben die Flüchtlinge früher zwei, drei Tage, bis die Asylantragsformalitäten erledigt waren. Danach wurden sie entweder in Triest aufgenommen oder, wenn es keinen Platz gab, anderswo in Italien verteilt. Heute warten sie Monate.
Als Vorzeigemodell gilt die Stadt, weil die Flüchtlinge, die bleiben dürfen, dezentral in Wohnungen statt in großen Aufnahmezentren untergebracht werden. "Nur das ermöglicht eine wirkliche Integration", sagt Schiavone. Die Wohnungen werden von der Hilfsorganisation verwaltet, insgesamt sind es 160. Gemietet werden sie über den Wohnungsmarkt. "Hört sich kurios an", sagt Schiavone, "doch vielen Besitzern ist es egal, wer darin wohnt, Hauptsache die Miete wird pünktlich bezahlt. Und das tun wir." Im Durchschnitt leben fünf Personen in einer Wohnung. Insgesamt sind so an die 1000 Asylbewerber untergebracht.
Im vergangenen Jahr geriet das Verteilungssystem allerdings ins Stolpern. Es kamen nämlich viel mehr Flüchtlinge über die Balkanroute in die Stadt. Der Bericht dazu wird gerade erfasst, man schätzt aber, dass die Zahl der Asylanträge 2022 bei knapp 10.000 lag, während es im Jahr davor 6000 waren. Das hätte eine schnellere Bearbeitung der Anträge erfordert, um das Rotationssystem von zwei bis drei Tagen beizubehalten. Die Stadt unternahm jedoch nichts. "Und die Caritas, die die Aufnahmezentren verwaltet, hat nicht protestiert", fügt Schiavone hinzu. Im Moment warten an die 260 Asylbewerber auf den Bescheid.
Doch während diese zumindest ein Dach über dem Kopf haben, gibt es die wie Abdullah, Murat und Hussein, die sich irgendwie durchschlagen müssen, bis ein Platz für sie frei wird. Und jeden Tag kommen neue hinzu.
Man braucht nur auf den Platz vor dem Hauptbahnhof, die Piazza della Libertà, zu gehen. Dort hält der 40er-Bus, aus dem zu früher Morgenstunde Gruppen von oft völlig erschöpften Menschen aussteigen, vorwiegend Pakistaner, Afghanen, Iraner, Iraker. Der Bus fährt nämlich bis hinauf zu den Ortschaften Bagnoli della Rosandra und San Dorligo della Valle. Von dort aus beginnen die Wanderwege durch das Karstgebiet. Für die Flüchtlinge sind es die Endstationen eines mühevollen, an vielen Stellen auch gefährlichen, tagelangen Fußmarschs. Nur ein paar hundert Meter entlang dieser Wanderwege stößt man schon auf ihre Spuren: Feuerstellen, leere Lebensmitteldosen, zerfetzte Schuhe und Rucksäcke.
Die Flüchtlinge nennen den Marsch "The Game". Den einen gelingt es schon beim ersten Mal, die Grenze zu überqueren, andere müssen es mehrmals versuchen. Umar ist Mitte 20, er kommt aus Pakistan. Zweimal wurde er von der kroatischen Polizei "wieder aufgenommen". Das soll heißen, er wurde von den italienischen Beamten ohne Abschiebungsverordnung, was gesetzeswidrig ist, den kroatischen Kollegen übergeben. Umar erzählt, dass er geschlagen und gefoltert wurde. Dabei hebt er seine Hosenbeine und zeigt auf Brandnarben an den Beinen. Sanjay ist 30 Jahre alt, kommt aus Afghanistan. Über Rumänien landete er in Ungarn. "Die Menschen haben uns angezeigt und die Polizei hat uns geschlagen", sagt er. Er hofft, jetzt endlich angekommen zu sein, die Sprache zu lernen und eine Arbeit zu finden. Zu Hause habe er IT studiert, fügt er hinzu.
Schlepper verlangen bis zu 10.000 Euro, um die Migranten von der Türkei in die EU zu bringen. Um das Geld zusammenzubekommen, verkaufen die Familien Grundstücke und leihen sich Geld von Verwandten. Trotzdem sehen die meisten Flüchtlinge in diesen "Passeurs" - in den Schleppern - so etwas wie Schutzengel.
In Triest angekommen ist die erste Anlaufstelle das von den Hilfsorganisationen San Martino al Campo und ICS geführte Tageszentrum, in einer Straße in Bahnhofsnähe, der Via Udine. "Hier können sich diejenigen, die noch keinen Platz in den Aufnahmelagern haben oder gerade angekommen sind, duschen, bekommen saubere Unterwäsche, Essen und werden, wenn nötig, ärztlich versorgt", erklärt Maddalena Avon von ICS. "Viele, die vorbeikommen, sind aber nur auf der Durchreise, sie wollen weiter Richtung Frankreich oder Nordeuropa."
17.30 Uhr, ein älteres Paar kommt bepackt mit Taschen auf die Piazza della Libertà. Lorena Fornasir ist über 60, ihr Mann Gian Andrea Franchi 86 Jahre alt. Um Flüchtlingen zu helfen, die in Triest gestrandet sind, gründeten sie 2018 die Hilfsorganisation "Linea d’Ombra". Sie bringen saubere und warme Kleidungsstücke mit. Lorena Fornasir versorgt auch kleine Wunden. Vor allem geschundene Füße.
"Man kann sich gar nicht vorstellen, in welchem Zustand manche sind", sagt sie, während sie einen Pakistaner verarztet. "Wir machen das, was eigentlich die Stadt machen müsste", fügt ihr Mann hinzu. Luciano Prandin teilt diese Meinung. Auch er ist im fortgeschrittenen Alter, kommt trotzdem zweimal die Woche, bringt heißen Tee und Kuchen. "Irgendetwas muss man doch machen", meint er.
Manche Flüchtlinge manchen nur kurz Halt in Triest. Oft nehmen sie schon am nächsten Tag den 4.30-Uhr-Zug nach Mailand - zu dieser Uhrzeit sind Kontrollen eher selten - und fahren von dort weiter nach Ventimiglia, zur italienisch-französischen Grenze. Da beginnt "The Game" aufs Neue. Wieder geht es durch Wälder, steile Bergpfade, wieder sitzt ihnen die Angst im Nacken, von der Grenzpolizei erwischt zu werden - dieses Mal der französischen.